Hung Gar Kung Fu III

In Kung Fu by Kung Fu München

Interview von Sifu Alan Baklayan mit der Zeitschrift Martial Arts (1985):

Martial Arts

Herr Baklayan, Sie haben uns erzählt, wie das Hung Gar – schon von seinen Anfängen her – auf die Bewältigung realer Kampf- und Lebenssituationen ausgerichtet war und haben uns am Beispiel der Leibwächter, die z. B. bei Transporten tagtäglichen Gefahrensituationen zu begegnen hatten, die Notwendigkeit einer wirklichen Kampfeffizienz veranschaulicht.
Das führt uns zu der Frage, wie auf eine reale Gefahrensituation hin gelernt werden kann und zur Frage des Lernens und Studierens einer solchen Kampfkunst überhaupt, anders gesagt, zu dem Problem der Formen. Heute werden die Formen ja oft verstanden, beziehungsweise missverstanden als Zusatzgabe, als Kür oder Tanz, als auswendig gelernte Konfigurationen. Sie haben vielfach ihren tieferen Sinn verloren und sind nicht mehr mit dem Geist, dem Intellekt und dem Überlebenswillen gefüllt, der früher zwangsläufig war. Daher würde uns interessieren, – selbstverständlich in erster Linie für das Hung Gar – was die Formen im Allgemeinen bedeuten. Können Sie uns einiges Grundsätzliches dazu sagen?

Sifu Alan Baklayan

Wir haben im Hung Gar verschiedene Formen – für Anfänger, für die mittlere Stufe und für Fortgeschrittene. Wenn man den äußeren Ablauf der Formen erst einmal gelernt hat und anfängt sie ernsthaft zu üben und sich damit auseinander zu setzen, merkt man, dass jede Form eine andere Funktion und eine andere Art der Bewegung hat. Eine Form dient mehr der Entwicklung von Kraft, eine andere mehr der Entwicklung von Flexibilität, Bewegung und Anwendung der Techniken.
Am Anfang bringt man dem Schüler eine bestimmte Art der Bewegung bei, an die er sich gewöhnen muss, und die von außen gesehen – das muss ich zugeben – einigermaßen künstlich wirkt. Wenn man sie über längere Zeit übt und all das, was überflüssig ist, weglässt, merkt man, dass es sich um eine einfache und natürliche Bewegung handelt. Ich habe im Unterricht immer wieder festgestellt, dass die Anfänger, ohne es zu wissen und zu wollen, sehr viel Überflüssiges in die Formen hinein bauen. Die eigentliche Art der Bewegung ist sehr einfach.
Für mich persönlich besteht die Form nicht aus irgendeiner Kombination von Techniken, also von äußeren Figuren, sondern vielmehr aus einer Bewegungsart, die, indem ich mich hin und her bewege, eine bestimmte Einstellung in mir hervorruft. Die äußere Bewegung muss man erst einmal lernen, darin besteht überhaupt kein Zweifel, das muss gut gehen. Erst, wenn man nicht mehr daran denken muss, sondern die Form als einen Austausch mit einem imaginären Gegner ausübt – dabei spielt die Vorstellung übrigens eine sehr große Rolle – sieht man, dass jede Form etwas anderes vermittelt. Das heißt, es geht nicht darum, wie die Bewegung von außen aussieht, sondern darum, wie ich meinen Körper bewege, wie er die Kraft einsetzt, wie er zurückgeht, sich dreht und so weiter, wie die Bewegung von innen nach außen geht.
Gott sei Dank habe ich in den Formen noch nicht ausgelernt – sonst wäre es langweilig. Mit der richtigen Einstellung – darauf bestehe ich – kann man jeden Tag etwas aus den Formen lernen. Man braucht die Formen nicht zehnmal am Tag zu machen, nur um sie gemacht zu haben, um eines äußeren, sozialen oder moralischen Effektes willen. Es genügt sogar, wenn man die Form nur einmal macht, vorausgesetzt, man macht sie richtig und ist innerlich dabei. Es mag einige Leute provozieren, wenn ich sage: Es ist fast ein Gesetz, dass man, obwohl man dieselbe Form macht, jeden Tag etwas daraus lernt.

Martial Arts

Manche Menschen glauben, dem Alten eine moderne Auffassung entgegensetzen zu können oder zu müssen, indem sie sagen, jede Form – und das trifft ja essentiell das Problem der Formen – sei im Grunde genommen eine Behinderung. Das ist, was den Kampf betrifft, eine Binsenweisheit. Diese Leute setzen an die Stelle des Begriffs „Form“ Begriffe wie „Spontanität“, „natürliche Bewegung“, „aus dem Augenblick heraus“ und ähnliche, die ihrem Reiz-Reaktionsschema entsprechen. Sie trainieren dann am Sandsack oder an anderen Geräten unter bestimmten Bewegungen, oftmals in der Überzeugung, dadurch der Natur am nächsten zu sein. Auch wenn es sich dabei möglicherweise um eine ganz derbe Form der Konditionierung handelt, steht dies oftmals als Argument dem Formentraining gegenüber. Könnten Sie dazu noch einmal kurz Stellung nehmen?

Sifu Alan Baklayan

Um etwas klar zu stellen: Ich sehe mich nicht im Gegensatz zu irgendeiner modernen Kunst oder Auffassung. Die moderne Auffassung ist mir bekannt und ich habe unter bestimmten Gesichtspunkten auch gar nichts dagegen einzuwenden. Ich kann nur sagen, ich habe ja verfolgt, wie sie sich entwickelt hat und wenn ich so betrachte, was in der Kampfkunstszene passiert, wundert mich das überhaupt nicht. Wenn ich bedenke, wie viele Leute sich hier auf Geheimnistuerei, auf Mystik und irgendwelche geheimnisvollen Techniken berufen, ist es für mich selbstverständlich, dass das Kung Fu an Glaubwürdigkeit verloren hat, vor allem bei jenen, die sich nicht weiter damit auseinandergesetzt haben.
Früher gab es in Hong Kong und in ganz China Wettkämpfe, die allerdings etwas anders abliefen, als man das heute zum Beispiel vom Kickboxen her kennt: An einer runden, meist etwas erhöhten Fläche, einer Art Ring, traf sich morgens ein Haufen Leute. Einer betrat diese Fläche und wartete auf einen Herausforderer, mit dem er dann kämpfte. Wenn es überhaupt Regeln gab, dann die, dass entweder einer von sich aus aufgab, oder derjenige, der zuerst blutete, verloren hatte. Der Gewinner blieb dann auf der Fläche sitzen und wer am Abend noch oben saß, wurde zum Sieger des Tournaments erklärt. Glauben Sie, dass diese Leute keine Spontanität besaßen, dass sie nicht am Sandsack trainiert und auf die Effizienz ihrer Schläge geachtet haben?

Martial Arts

Um ein Missverständnis zu vermeiden: Es geht nicht um die Differenz zwischen alt und modern, sondern um das, was die Form unmittelbar betrifft. Mit der Feststellung, die Form stünde im Widerspruch zum Kämpfen, wird an dem, was Form eigentlich bedeutet, ein bisschen vorbei operiert.
Sie haben vorhin gesagt, dass der natürliche Aspekt in der Form eigentlich das Wesentliche der Bewegung in einem Stil – speziell jetzt im Hung Gar – ist und dass dieses Natürliche „heraus gemeißelt“ oder befreit werden soll. Die scheinbare Entgegensetzung der Begriffe „Form“ und „natürlich“ ist sehr oberflächlich und hängt in keiner Weise mit dem wirklichen Wissen über diese Dinge zusammen. Gerade Leute, die keine Ahnung vom Kung Fu haben, nehmen, weil sie es nicht besser verstehen, die Form als Merkmal dafür, dass es sich um veraltete, traditionelle „Tänze“ handelt, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben. Gibt es in diesem Zusammenhang noch irgendeine Information, die auch für den Laien wichtig wäre?

Sifu Alan Baklayan

Ja. Einen Gedanken vielleicht. Die Formen sind ja eine Art ständiger Wiederholung. Wenn man sich in den alten Traditionen all die Wege betrachtet, die zu einem höheren Wissen führen, begegnet man immer irgendeiner Form von Wiederholungsübungen, Mantras, Sutras, Mudras oder auch zum Beispiel in Indien, Tänzen. Dass sich in verschiedenen Ländern und in unterschiedlichen Traditionen überall diese Formen der Wiederholung entwickelt haben, und dass dadurch ein höheres Wissen übermittelt wurde, muss einen Sinn haben.

Martial Arts: Wir bedanken uns für dieses Gespräch.
Quelle
Artikel aus der Zeitschrift Martial Arts Februar/März 1985