Hung Gar Kung Fu II

In Kung Fu by Kung Fu München

Obwohl das Hung Gar Kung Fu in China zu den populären Stilen gehört, ist es im Westen noch weitgehend unbekannt geblieben. In der letzten Ausgabe berichtete Martial Arts aus einer der wenigen Hung Gar Kung Fu Schulen Europas, der Schule von Sifu A. Baklayan in München.

Alan Baklayan hat seine Kunst von Meister Bucksam Kong direkt gelernt. „Bucksam Kong“, so erzählt er uns, „war einer der ersten Chinesen auf Hawaii, der vor ca. 20 Jahren die Türen seiner Schule dem „weißen Teufel“ öffnete. Mein Meister stieß zunächst auf großen Widerstand bei der chinesischen Bevölkerung von Hawaii. Man beschimpfte ihn, wie er so etwas wagen konnte, aber die 20 Jahre der Entwicklung haben ihn bestätigt.
Man muss dazu sagen, dass chinesisches Kung Fu immer schon an ein Familiensystem gebunden war. Die Tatsache aber, dass eine Schule Nichtchinesen geöffnet wurde, ist ja noch nicht gleichbedeutend damit, dass ihnen auch die tieferen Geheimnisse dieser Schulen bzw. Stile preisgegeben wurden. Die Tradition soll innerhalb einer Kette weitergegeben werden. Diese Kette braucht ihre Glieder. Deren Zugehörigkeit hängt aber nicht unbedingt von ihrer Herkunft oder Nationalität ab, sondern in erster Linie von ihrer Loyalität, ihrer Verständigkeit und der Qualität ihres Könnens.“

„Die Geschichte des Hung Gar wird in der Regel so erzählt: lm 16. Jahrhundert trat ein junger Mann namens Kwok-Yüen in den Siu Lum (Shaolin Tempel) ein und entwickelte aus den „18 Händen des Lo-Hat“, die auf Bodhidharma zurückgeführt werden, 72 Bewegungen. Obwohl Kwok-Yüen ein Experte im Boxen und in den Waffen war, war er unzufrieden mit seinem Können. Auf der Suche nach Lehrern reiste er durch China und fand einen alten Meister namens Li und den Meister Pak Youk Fong. Sie kehrten zu dritt ins Kloster zurück, wandelten die 72 Bewegungen in 170 um und klassifizierten sie in fünf verschiedene Stile: Tiger, Kranich, Leopard, Drache und Schlange.

Der Kung Fu Stil, der dem Ursprung relativ nahe blieb, ist der Hung Stil, den man auf Hung-Hee-Gung zurückführt. Dieser Mann widmete sein Leben der Kampfkunst. Er war Schüler der beiden Siu Lum Priester Ji Sin, einem Experten der Langen-Hand-Methode und Fong Wing Chuen, einem begabten Boxer der Kurzen-Hand-Techniken. Hung kombinierte die besten Methoden seiner beiden Lehrer, spezialisierte sich in dem Tiger-Kranich-Stil und nannte die Schule „Hung Kuen Hu Hok pa “ (Hung Gar). Seine Nachfolger überlieferten die Techniken von Generation zu Generation, so dass die alte Kunst der „5 geformten Fäuste des Siu Lum“ erhalten blieb. Diese Kunst verbreitete sich über Südchina und zersplitterte sich in fünf Stilrichtungen, die nach ihren Gründern benannt sind: Hung, Lau, Mok, Choy und Li. Seit dieser Zeit haben die Stile mehr oder weniger viele Veränderungen erfahren.

Den „5 geformten Fäusten“ entsprechen die 5 Tiere:

  • der Tiger 虎

    steht für Knochen und dynamische Kraft

  • der Kranich 鶴

    zeichnet sich durch Flexibilität aus

  • der Leopard 豹

    repräsentiert Schnelligkeit und Geschicklichkeit

  • die Schlange 蛇

    symbolisiert innere Kraft

  • der Drache 龍

    verkörpert die geistigen Fähigkeiten

Zur Bedeutung der 5 Tiere hat A. Baklayan seine eigene Auffassung. Er sagte uns:
Die 5 Tiere, so sage ich meinen Schülern immer, bedeuten nicht, dass man seine Hände in irgendeiner komischen Weise hält, sondern sie meinen gewisse Prinzipien, die einem Wissen entsprechen, das sich nicht ohne weiteres ausdrücken und definieren lässt. Ich möchte das am Beispiel einer Kugel oder eines Balls erläutern. Der Ball repräsentiert in sich ein Prinzip. Man könnte sagen, er besteht aus einigen tausend Punkten. Jede Definition, die man von diesem Ball gibt, ist einer der Punkte, niemals aber der gesamte Ball. Definitionen basieren auf dem Intellekt, der von seiner Natur aus nur in Dualitäten denken kann. Es gibt andere psychische Zentren im Menschen, die anders auffassen – das will ich nicht ausschließen – aber Definitionen können nur so, d.h. dualistisch formuliert werden. Nimmt man diese Kugel oder diesen Ball und definiert einen Punkt, so ist das nicht falsch – der Punkt gehört tatsächlich zum Ball – aber es ist nicht der ganze Ball.

Die Chinesen und die Alten haben es hervorragend verstanden, eine Sprache der Symbolik zu verwenden, die dem Schüler einen Anreiz gab, in einer bestimmten Richtung eine lebendige Erfahrung zu suchen. Daher z.B. das System der 5 Tiere. Jedes der Tiere symbolisiert etwas. Wenn ich heute sage, wie es beispielsweise in vielen Büchern zu finden ist, der Tiger bedeute Knochenkraft, so ist das zwar richtig, man darf aber nicht vergessen, dass damit nur ein Punkt des Prinzips „Tiger“ erfasst ist.

Viele Legenden werden heute allzu wörtlich genommen, etwa nach dem Motto: Ein junger Mönch ging in den Wald und beobachtete den Tiger, studierte seine Bewegungen und versuchte dann, es ihm gleichzutun. Man sollte versuchen, etwas dahinter zu blicken. Dieser Mensch hat etwas gesucht. Er ist irgendwo hingegangen, hat über irgendetwas meditiert, etwas ausprobiert. Er hat geforscht, sich vielleicht Tag und Nacht, oft wochenlang, mit einem Begriff auseinandergesetzt und hat dabei vielleicht tatsächlich einmal einen Tiger oder Kranich gesehen. Man muss sich vorstellen, dass sich diese Leute in einer ständigen Konfrontation mit sich selber befunden haben, zunächst über Jahre hinweg im Kloster. Dann, wenn ein bestimmter Punkt erreicht war, wo sie nicht mehr weiterkonnten, sind sie – eventuell durch den Anstoß ihres Meisters, der sie womöglich absichtlich hinausgeworfen hat – ausgezogen, um nach etwas zu suchen, auf das sie sich jahrelang vorbereitet hatten. Eine kleine, äußerlich vielleicht unscheinbare Begebenheit mag dann die Erkenntnis bewirkt haben. Der Mönch versteht plötzlich, was das Ziel ist, und kehrt zurück.

Was dann meistens überliefert wird ist: Der Mönch zieht aus, sieht den Tiger, kehrt zurück und schlägt seinen Abt. Das ist ein Kindermärchen aber es ist in der Regel das, was die Leute interessiert. Der Lernweg eines Menschen aber, der Weg, wie der Meister zum richtigen Punkt im richtigen Moment die richtige Gelegenheit ergriffen hat, seinem Schüler etwas zu vermitteln, bedeutet eine lebendige Erkenntnis-Erfahrung, die nicht über Erklärungen läuft. Wie gesagt, man kann eine Kugel nicht erklären, indem man einen Punkt definiert. Aber auch das Beispiel von Kugel und Punkt ist nur ein Bild.

Mit dieser Auffassung tritt A. Baklayan vielen Vorurteilen, Missverständnissen und Fehlinterpretationen auf wohltuende Weise entgegen. Es handelt sich bei dem Prinzip der 5 Tiere nicht um das Nachstellen irgendwelcher Hand- oder Beinstellungen. Kein Mensch vermag sich wie eine Schlange oder ein Kranich zu bewegen und viele Körperhaltungen sind für den Menschen allein von seiner Anatomie her gar nicht möglich, einmal abgesehen davon, dass niemand in der Lage gewesen sein dürfte, die Bewegungen eines Drachen zu beobachten. Vielmehr handelt es sich um das Studium von Energieeinsätzen, um das Verständnis von grundlegenden Prinzipien. Auf das Problem und die Bedeutung der Formen und das spezifische Lernverhältnis im Hung Gar wird Martial Arts in der nächsten Ausgabe näher eingehen.
Quelle
Artikel aus der Zeitschrift Martial Arts April / Mai 1984